Warum ich heute geweint habe

Ich war etwa sechs Jahre alt, als meine Uroma zu uns gezogen ist. Sie hiess Hildegard (in ihrer Familie hatten alle feine deutsche Namen, es war wohl so in der Mode gewesen - eine Schwester hiess z.B. Wilhelmine), war schon dann weit über 85, ziemlich eigenwillig und konnte nicht mehr so viel - also alt. Es ging anfangs ganz gut, bis sie eines Tages, als niemand zu Hause war, sich waschen wollte. In der Küche - wir hatten kein Bad, Hygiene passierte in der Küche oder im Keller in der Sauna/Waschküche. Wasser war überall, Boden wurde nass, Uroma rutschte aus. Femur gebrochen. Sie schrie lange um Hilfe, bis der Nachbar sie hörte. Es folgten mehrer Monate im Krankenhaus. Langsam konnte sie wieder laufen, obwohl aus dem Haus ging sie nur noch einige Male - einmal zur Hochzeit, einmal auf Beerdigung... So ungefähr. Ab und zu kam Grossonkel Albert zu Besuch oder Albert's Sohn - aber es passierte nicht so oft. 

Jahre vergingen. Irgendwann konnte Uroma nicht mehr alles essen. Meine Mutter kochte dann immer Brei für sie. Dann konnte sie nicht mehr bis zur Toilette. Es wurde für sie in einen Holzstuhl ein Loch geschnitten und darunter stand dann das Töpfchen. Windeln für Erwachsenen kannte man damals nicht, automatische Waschmaschinen auch nicht. Es roch... nach Krankenzimmer. 

Dann fang Uroma an, allein in ihrem Bett zu singen oder zu schreien. Einmal war sie in Panik und rief: "Rettet die Pferde, sie ertrinken, rettet doch die Pferde...!" Vielleicht sah sie irgendwas, was sie vor vielen, vielen Jahren gesehen hatte, keine Ahnung.

Es war Spätherbst in 1987, als es ihr immer schlechter ging. Ab etwa Mitte November hat sie kein festes Essen mehr zu sich genommen, fragte nur nach Wasser. Nach drei Wochen waren wir sicher, dass es bald soweit ist... ihre Zeit war gekommen. Es war an einem Freitag Anfang Dezember, glaube ich, als sie auf gar nichts mehr reagierte. Sie lag da sehr leise... und atmete. Vielleicht war sie im Koma. 

Am Abend sassen ich, Mutter und Oma im Wohnzimmer. Wir konnten ja nichts tun, nur abwarten. Ab und zu ging eine von uns ins Nebenzimmer gucken, wie es ist. "Geh doch jetzt du, Kind," sagten sie mir. 

Uroma lag auf ihrem Rücken, Augen zu, Mund etwas auf. Es bewegte sich nichts in ihrem Zimmer. 

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und sagte: "Ich glaube, sie ist verstorben, aber ich weiss nicht so richtig, vielleicht sollten wir es mit einem Handspiegel nachschauen?" Denn das mit dem Atem auf dem Spiegel hatte ich irgendwo gelesen. 

Spiegel blieb so, wie es war, kein Atem. Mein Vater ist dann losgegangen, um seinen Bruder zu holen, der den Tod feststellen könnte, für den Totenschein - mein Onkel ist Arzt (na ja, jetzt schon lange in der Rente). Telefone hatten auch nur wenige, wir nicht. Ich wusste nicht so genau, was zu tun war. Ich wusste auch nicht genau, was zu fühlen war. Meine Uroma war so lange bettlagerig und ohne jeglichen Verstand gewesen, dass ich keine richtige Beziehung zu ihr hatte. Und wir hatten nie eine Tote im Haus gehabt (bis jetzt übrigens keine mehr, meine beiden Grosseltern starben im Krankenhaus). 



Heute habe ich mich daran erinnert. Erst dann habe ich verstanden, dass ich an dem Tag fast genauso alt war - sogar ein paar Wochen jünger - als unser Jüngster gerade. Er wird Anfang März 13, spielt gerade mit einem Freund Minecraft, ist fröhlich, aufgeweckt und immer noch richtig klein - mein Baby! Und dann habe ich geweint, wegen Zeitmangel sehr kurz, aber doch... zum ersten Mal in 34 Jahren darüber, was an diesem Abend eigentlich passiert war.

Wenn ich Heldin in einem mittelguten Buch wäre, würde hier stehen, dass dieser Tag Ende meiner Kindheit war. Eigentlich weiss ich es nicht. Es konnte auch der Tag sein, als ich (knapp 10) meiner knapp dreijährigen Cousine auf der Toilette geholfen habe und sie sehr, sehr gründlich putzen musste. Oder als ein betrunkener Mann in der Bushaltestelle nach meine kaum enstandenen Brüsten griff (ich war 14). Oder noch etwas Anderes, ich weiss nicht. 

Ich weiss aber, dass ich beten werde, dass keiner meinen Kinder meine Eltern (89 und 83, sehr wackelig, es kann theoretisch jeden Tag passieren) tot auffinden muss. Lieber ich selbst. Ich kann damit umgehen, meine Kinder nicht... und das ist keine Kindheitserfahrung, die man unbedingt haben sollte, oder?



Und wer fragt, warum war Uroma nicht in einem Heim oder Hospiz - Hospizen gab es keine und Altersheime waren damals so grässlich, dass wir nie daran gedacht hatten. Ausserdem machte man so etwas nicht.

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